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WAHRHEIT ODER PFLICHT: Du hast die Wahl

Thriller

Ein Eliteinternat. Eine eingeschworene Clique. Ein tödliches Spiel.

Das Stipendium am renommierten Eliteinternat Santa Clara scheint für die 17-jährige Verena die Chance ihres Lebens zu sein. Doch der Traum verwandelt sich bald in einen Albtraum, denn hinter der perfekten Fassade lauern Machtspiele und perfide Intrigen. Ihre neuen Freunde haben ein dunkles Geheimnis, und ehe Verena begreift, was geschieht, ist sie Teil eines Spiels, das keine Regeln kennt.

Zwanzig Jahre später folgt Leonie den Spuren von Verenas Vergangenheit. Als Kindermädchen bei einer einflussreichen Wiener Familie kennt sie nur ein Ziel: die Wahrheit ans Licht zu bringen. Denn die Schatten von damals reichen bis in die Gegenwart – und das gefährliche Spiel, das damals begann, geht in die nächste Runde …

Ein packender Psychothriller über dunkle Geheimnisse, zerstörerische Lügen und den erbitterten Kampf um Gerechtigkeit.

AB 5. MÄRZ 2025 ERHÄLTLICH

LESEPROBE

Kapitel 1

Heute. Leonie

Beinahe ehrfürchtig betrachtete ich das Haus, das vor mir aufragte. Es war zweistöckig, in einem satten Gelb gestrichen, eine Treppe führte zu einer dunkelgrünen Eingangstür hinauf. Die großzügigen Flügelfenster fingen die Mittagssonne ein und warfen glitzernde Reflexe auf die akkurat geschnittenen Buchsbäume, die die Tür wie stumme Wächter flankierten.

Das Anwesen der Familie Hellstein lag am Rande des Cottageviertels, einem exklusiven Stadtteil Wiens. Gewöhnliche Häuser gab es hier nicht, nur Villen und avantgardistische Bauten, umgeben von üppigen Vorgärten und jahrhundertealten Eichen, die ihre Kronen in den Himmel reckten. Der Kontrast zu dem Arbeiterviertel, in dem ich wohnte, hätte kaum größer sein können. Selbst die Luft roch anders, nach Wohlstand und Erfolg. Jeder Stein, jede sorgsam gestutzte Hecke verriet, dass dies ein Ort der Elite war – und dass ich nicht hierhergehörte.

Ich wischte mir die feuchten Hände an meiner Hose ab. Ich hatte lange überlegt, was ich anziehen sollte und mich am Ende für eine hochgeschlossene Bluse zu einer schwarzen Stoffhose entschieden – unpraktisch warm für Ende August, weshalb ich jetzt schrecklich schwitzte.

Ich atmete noch einmal tief durch, dann stieg ich die Treppe hinauf und drückte auf den Klingelknopf. Ein Summen ertönte, gefolgt von einem metallischen Klicken, als das Schloss entriegelt wurde.

Die Frau, die mir die Tür öffnete, war Ende dreißig, schlank und hatte große, stark geschminkte Augen. Sie trug ein weißes Leinenkleid und dazu passende flache Schuhe, deren Schnallen im Sonnenlicht glänzten. Auch wenn ich die Marke nicht kannte, war mir klar, dass sie verflucht teuer gewesen sein mussten.

»Guten Tag«, sagte sie höflich. »Frau Köck, nehme ich an?«

»Ja, genau. Wir haben vorgestern telefoniert. Ich bin wegen des Vorstellungsgesprächs hier.« Nach einer kurzen Pause fügte ich hinzu: »Die Stelle ist doch noch frei, oder? Sie haben sie noch nicht vergeben?«

»Nein, das heißt, ja. Die Stelle ist noch frei.« Lächelnd reichte sie mir ihre perfekt manikürte Hand. »Stefanie Hellstein. Schön, Sie kennenzulernen. Bitte, kommen Sie doch rein.«

Ich folgte ihr durch den Vorraum und einen mit weißen Einbauschränken gesäumten Flur, von dem eine Tür in ein geräumiges Wohnzimmer abzweigte.

Frau Hellstein setzte sich auf das Sofa und deutete auf den Platz ihr gegenüber. »Setzen Sie sich doch. Möchten Sie vielleicht eine Tasse Kaffee?«

»Danke, nicht nötig.«

Frau Hellstein nickte knapp und griff nach einer Aktenmappe auf dem Beistelltisch. Dann lehnte sie sich zurück, schlug die langen Beine übereinander und sah mich erwartungsvoll an. »Erzählen Sie mir doch ein wenig über sich, Frau Köck.«

Meine Hände verkrampften sich in meinem Schoß. Obwohl ich die Antworten auf jede erdenkliche Frage einstudiert hatte, war ich nun doch nervös. »Ich bin neunzehn; in Wien geboren und aufgewachsen. Während meiner Schulzeit und danach habe ich regelmäßig als Babysitterin gearbeitet – meistens abends, aber auch tagsüber, wenn es sich ergeben hat.« Ich hielt kurz inne. Die unschönen Details meiner Vergangenheit – dass ich gerade erst einem drohenden Strafverfahren entgangen war – verschwieg ich lieber. Stattdessen lächelte ich und fügte mit gebührendem Enthusiasmus hinzu: »Die Arbeit mit Kindern hat mir immer Spaß gemacht. Daher freue ich mich, heute hier zu sein, und hoffe, die Gelegenheit zu bekommen, Sie und Ihre Familie zu unterstützen.«

Frau Hellstein warf einen Blick auf meine Bewerbungsunterlagen, blätterte mechanisch durch die Seiten und legte die Mappe dann mit einem zufriedenen Nicken beiseite. »Sehr schön«, sagte sie schließlich. »Wie Sie sicher wissen, ist mein Mann Ludo Abgeordneter im Wiener Landtag und beruflich stark eingespannt. Auch ich werde in Zukunft wieder mehr arbeiten, daher suchen wir jemanden, der sich zuverlässig um unsere Tochter Mia kümmert.«

Ihr Blick glitt prüfend über mich hinweg und ich nickte.

»Unser Sohn Sixtus ist elf und besucht ein Internat. Er kommt nur in den Ferien nach Hause«, fuhr sie fort. »Momentan ist er auf einem Pfadfinderlager und wird danach direkt dorthin zurückkehren. Unsere Tochter Mia ist vier. Sie geht vormittags in den Kindergarten und müsste täglich um 14 Uhr abgeholt und bis zu meiner Rückkehr betreut werden. Manchmal auch abends, wenn ich zu einer Veranstaltung muss.«

Wieder nickte ich. Die Selbstverständlichkeit, mit der sie davon ausging, dass ich über ihren Job als Influencerin Bescheid wusste – wenn man das überhaupt einen richtigen Job nennen konnte –, entlockte mir ein kleines Schmunzeln. »Das klingt gut. Wie gesagt, ich liebe Kinder und freue mich darauf, Mia kennenzulernen. Welchen Kindergarten besucht sie denn?«

»Den Waldorfkindergarten in Pötzleinsdorf. Eine private Einrichtung, wird Ihnen wahrscheinlich nichts sagen. Aber Mia fühlt sich dort sehr wohl.«

Ich setzte mein bestes wissendes Lächeln auf. »Oh, natürlich kenne ich den. Einige Kinder aus dem Bekanntenkreis meiner Eltern waren auch dort«, log ich. »Ich finde den ganzheitlichen Ansatz der Waldorfpädagogik sehr inspirierend. Er fördert sowohl die Kreativität als auch die sozialen Kompetenzen, ohne die Kinder dabei zu überfordern.«

»Tja, da sind wir uns wohl einig.« Ein Hauch von Überraschung blitzte in Frau Hellsteins Gesicht auf, doch sie fing sich schnell wieder. »Zusätzlich müssten Sie sich vormittags um den Haushalt kümmern und gelegentlich Einkäufe für uns erledigen. Haben Sie einen Führerschein?«

»Ja, allerdings besitze ich kein eigenes Auto.«

Sie winkte ab. »Das ist kein Problem. Sie können einen unserer Wagen benutzen.«

Während Frau Hellstein weiter über die Aufgaben sprach, die der Job mit sich brachte, ließ ich den Blick unauffällig durch das Wohnzimmer schweifen. Alles hier wirkte wie aus einem Hochglanzmagazin – die elegante Sitzgarnitur, die funkelnden Kristalle des Kronleuchters an der hohen Decke, der kunstvoll verzierte Kamin. Der Sims war reich dekoriert: Filigrane Porzellanfiguren standen zwischen sorgsam arrangierten Fotos. Auf einem von ihnen erkannte ich Stefanie in einem glamourösen Kleid, wie sie bei einer Vernissage charmant in die Kamera lächelte. Ein anderes zeigte die Hellsteins im Urlaub am Strand. Ihre Gesichter strahlten mit dem türkisblauen Wasser um die Wette. Am liebsten wäre ich aufgestanden, um die Bilder aus der Nähe zu betrachten, doch ich zwang mich, meine Neugier zu zügeln. Wenn Stefanie mich erst einmal eingestellt hatte, würde ich noch genug Zeit haben, mich in Ruhe umzuschauen.

Ein Räuspern holte mich zurück in die Gegenwart.

»Kommen wir zum Thema Gehalt. Ich nehme an, Sie haben unser Angebot in der Anzeige gesehen?«

»Ja, das habe ich. Es ist sehr großzügig«, erwiderte ich und bemühte mich, überzeugend zu klingen. Tatsächlich war das Gehaltsangebot angesichts des offensichtlichen Wohlstands der Familie fast schon ein Hohn. Aber ich wollte diesen Job unbedingt. Es ging mir um weit mehr als nur um Geld.

Frau Hellstein nickte zufrieden. »Gut, dann wäre das ja geklärt.«

In diesem Moment erklang hinter uns eine zarte Kinderstimme. »Mama? Wer ist das?«

Wir drehten uns um. Ein kleines Mädchen war im Türrahmen aufgetaucht, ein Kuscheltier fest an die Brust gedrückt.

»Mia, mein Schatz! Du bist ja schon wach!« Frau Hellstein stand auf und ging auf ihre Tochter zu. Die großen Augen des Mädchens musterten mich neugierig, während ihre Mutter sie an der Hand zu mir führte.

»Das ist Leonie. Leonie – Frau Köck –, das ist Mia«, stellte sie uns vor.

»Leonie reicht völlig«, sagte ich rasch und ging vor dem Mädchen in die Hocke. In ihrem rosafarbenen Pyjama und den vom Mittagsschlaf zerzausten Locken sah sie hinreißend niedlich aus.

»Hallo, Mia. Freut mich, dich kennenzulernen. Und wer ist das?«, fragte ich und deutete auf das Kuscheltier. »Ist das dein Freund?«

Mia schaute mich mit großen Augen an, bevor sie mir das Stofftier mit einer Mischung aus Eifer und Neugier präsentierte. »Das ist Flocki.«

Ich lächelte und betrachtete den kleinen, bereits etwas abgewetzten Bären. »Er ist wirklich süß.«

»Den hab ich zum Geburtstag bekommen. Ich bin nämlich schon vier!«, verkündete Mia mit kindlichem Stolz und hielt die entsprechende Anzahl an Fingern hoch.

»Wow, dann bist du ja schon ein richtig großes Mädchen!«

Mia öffnete gerade den Mund, um etwas zu erwidern, doch Frau Hellstein unterbrach sie mit sanfter Bestimmtheit. »Geh jetzt bitte wieder in dein Zimmer, Liebling«, sagte sie, während ihre Hand zärtlich über Mias Locken glitt. »Ich komme gleich nach, und dann suchen wir zusammen ein Spiel aus, ja?«

Die Kleine zögerte kurz, als wollte sie widersprechen, nickte dann aber. »Ist gut. Tschüss, Leonie!«

Mit diesen Worten wandte Mia sich um und hüpfte davon.

»Ein wirklich bezauberndes Mädchen«, bemerkte ich, als sie aus dem Raum verschwunden war. »Und so hübsch! Ganz wie ihre Mutter.«

Frau Hellstein lächelte, sichtlich geschmeichelt. Ein Hauch von Selbstgefälligkeit schlich sich in ihre Haltung, bevor sie leicht den Kopf schüttelte, als müsse sie sich daran erinnern, warum wir überhaupt hier waren. »Gut … Ich denke, das wäre alles von meiner Seite. Haben Sie noch Fragen?«

Ich setzte ein schüchternes Lächeln auf und zögerte einen Moment, ehe ich antwortete. »Nur eine: Wann kann ich anfangen?«

Frau Hellstein lachte kurz auf. »Wir prüfen derzeit noch andere Bewerbungen, aber ich werde mich in den nächsten Tagen bei Ihnen melden.«

 

Kapitel 2

Heute. Leonie

Als ich nach einer kurzen Straßenbahnfahrt die Treppe zum U-Bahnhof am Volkstheater hinaufstieg, schlug mir der Geruch von abgestandener Luft und Urin entgegen. Meine Bahn stand bereits in der Station, also legte ich einen Zahn zu und sprang gerade noch rechtzeitig hinein, bevor sich die Türen mit einem Pfeifton schlossen.

Erschöpft ließ ich mich in einen der roten Plastiksitze fallen. Die U-Bahn war um diese Zeit angenehm leer; nur wenige Fahrgäste, die auf ihre Smartphones oder teilnahmslos in die Gegend starrten, teilten das Abteil mit mir. Das gleichmäßige Rattern des Zuges hatte eine nahezu hypnotische Wirkung, und allmählich fiel die Anspannung von mir ab.

Das Vorstellungsgespräch bei Stefanie Hellstein hatte kaum eine halbe Stunde gedauert, aber ich spürte, dass es gut gelaufen war. Richtig gut sogar. Ich hatte die perfekte Balance zwischen Selbstbewusstsein und Bescheidenheit gefunden, und mein »Fachwissen« über die Waldorfpädagogik hatte sicher auch nicht geschadet.

Ich fragte mich, wie lange es wohl dauern würde, bis sich Frau Hellstein bei mir melden würde. Ich war mir sicher, dass ich den Job in der Tasche hatte – die Hellsteins hatten schlicht keine andere Wahl. Stefanie hatte zwar angedeutet, dass es noch weitere Bewerber gab, aber das war eine glatte Lüge. Ich selbst hatte dafür gesorgt, dass es keine anderen gab.

Stefanie Hellsteins E-Mail-Account zu knacken, war erschreckend einfach gewesen. Es hatte mich nur wenige Minuten gekostet, um ihr Passwort – »Stefanie1988« – zu erraten, was fast schon einer Einladung gleichgekommen war. Also hatte ich auf jede Bewerbung mit einer kurzen, aber höflichen Absage geantwortet und sie anschließend aus dem Postfach gelöscht. Mir freien Zutritt zum Haus der Hellsteins zu verschaffen war für meine Pläne zu wichtig, um irgendetwas dem Zufall zu überlassen.

Als ich die U-Bahn verließ, war es, als hätte ich eine unsichtbare Grenze überschritten. Die gepflegten Gärten und Villen waren einem Labyrinth aus grauen Betonbauten gewichen, die sich entlang der engen Straßen drängten. Die Luft war erfüllt von Verkehrslärm und dem Geruch von Imbissständen und Autoabgasen.

Geschickt schlängelte ich mich durch die Menschenmassen, vorbei an Dönerbuden, Straßencafés und mit Graffiti beschmierten Mauern, bis ich den unansehnlichen Häuserblock erreichte, in dem ich wohnte. Mein Appartement lag im dritten Stock eines trostlosen Nachkriegsbaus und war kaum größer als ein Schuhkarton. Außer einem Bett, einem durchgesessenen Sofa und einer winzigen Arbeitsecke, die zwischen Küchenzeile und Fenster eingezwängt war, gab es nicht viel. Aber die Miete war erschwinglich und etwas Besseres konnte ich mir im Moment nicht leisten.

Als ich das Schloss entriegelte und mich mit aller Kraft gegen die klemmende Tür stemmte, wurde ich stürmisch von einem grau-weißen Fellknäuel begrüßt.

»Hallo, Cleo«, murmelte ich lächelnd und ging in die Hocke, um sie zu streicheln. Das Kätzchen schmiegte sich an mich und schnurrte zufrieden. Ich hatte Cleo vor einem halben Jahr aus dem Tierheim geholt, kurz nachdem ich hier eingezogen war. Sie litt an einer Wachstumsstörung und ihr linker Hinterlauf war verkümmert – wahrscheinlich der Grund, warum niemand sonst sie haben wollte. Doch in meinen Augen war sie perfekt.

Nachdem ich Cleos Futternapf aufgefüllt hatte und in bequemere Kleidung geschlüpft war, ließ ich mich auf die Couch fallen und schaltete den Fernseher ein. Eine Weile zappte ich ziellos durch die Kanäle und blieb kurz bei einer Sitcom über eine Gruppe Hausfrauen hängen, die sich durch absurde Alltagsprobleme kämpften, bevor ich die Flimmerkiste wieder abdrehte.

In Gedanken zurück bei den Hellsteins stand ich auf, ging zum Schreibtisch und zog ein Foto aus der Schublade. Kaffeeflecken zierten die oberen Ecken, die Ränder waren rissig und abgegriffen von den unzähligen Malen, in denen ich es bereits in Händen gehalten hatte. Cleo strich mir um die Beine, aber ich bemerkte es kaum, so versunken war ich in den Anblick des Bildes.

Es war ein altes Jahrbuchfoto. Eine Gruppe lächelnder Jugendlicher posierte vor einer mit Efeu bewachsenen Mauer. Die Namen der Schüler waren in alphabetischer Reihenfolge darunter aufgelistet: Aaron Beron, Ludwig Hellstein, Verena Martins, Marie Gallager, Michael Stricker, Stefanie Worcester, Cornelia Zeppelin.

Wie jung sie doch aussahen, jung und unschuldig!

Aber ich wusste es besser. Noch vor Beginn der Weihnachtsferien war einer von ihnen tot gewesen – ermordet von seinen engsten Freunden.

 

Kapitel 3

September 2005. Verena

Etwas verunsichert blieb Verena neben der großen Eichentür stehen. In der Aula der Santa Clara wimmelte es von Schülern. Um einen Empfangstisch drängte sich eine Schar Erstklässler mit ihren Eltern; einige hüpften aufgeregt auf und ab, während andere schüchtern die Hand ihrer Mutter umklammerten. Überall sah sie Grüppchen von Teenagern mit breitem Grinsen, sonnengebräunter Haut und Designerklamotten, die sich gegenseitig auf die Schultern klopften oder sich in die Arme fielen. Wieder andere studierten die Aushänge an den Korktafeln in der Ecke oder suchten aufgeregt nach ihren Namen auf den Listen.

»Und du bist dir ganz sicher, dass du das hier wirklich willst?«, fragte Tante Claire, die ihr Zögern bemerkt hatte. »Noch können wir umkehren und den nächsten Zug zurück nach Hause nehmen.«

Verena schüttelte entschlossen den Kopf. »Nein, auf keinen Fall.«

Die Santa Clara galt als eine der renommiertesten Privatschulen Österreichs. Sie war bekannt für ihre hohen Leistungsstandards und den Fokus auf Fremdsprachen, Selbstständigkeit und Disziplin. Wer hier seinen Abschluss machte, dem standen alle Türen offen. Ein Stipendium an dieser Schule zu bekommen, hatte viel Arbeit und auch ein bisschen Glück erfordert. Verena hatte zu hart dafür gekämpft, um jetzt einen Rückzieher zu machen.

»Na dann – auf geht’s«, sagte Tante Claire mit einem leisen Seufzer. »Bringen wir’s hinter uns.«

Verena ignorierte die Blicke der anderen Schüler und schlängelte sich mit ihrem schweren Koffer durch die Aula. Tante Claire folgte eine Schrittlänge hinter ihr. Gemeinsam traten sie an den Empfangstresen, wo der größte Andrang mittlerweile nachgelassen hatte.

»Guten Tag«, sagte Tante Claire zu der Dame hinter dem Tresen, die das Schullogo auf der Brust trug. »Das ist meine Nichte, Verena Martins. Heute ist ihr erster Tag hier. Können Sie uns sagen, wo wir hin müssen?«

»Verena Martins?«, wiederholte die Frau und überflog die Namensliste auf ihrem Pult. »Ah, da habe ich dich ja. Quereinsteigerin, dritte Oberstufe, richtig?«

Verena nickte. »Genau.«

Die Frau schenkte ihnen ein einnehmendes Lächeln und schüttelte erst ihrer Tante und dann Verena die Hand. »Herzlich willkommen, Verena! Ich bin Ulrike Mistrott – aber nenn mich ruhig Ulli, das machen alle hier. Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Anreise?«

»Ja, danke«, antwortete Tante Claire. »Der Zug war sogar mal pünktlich.«

»Na, dann haben Sie Glück gehabt.« Ulli gluckste, bevor sie sich wieder Verena zuwandte. »Frühstück gibt es jeden Morgen ab sechs, der Unterricht beginnt um acht.« Sie griff in die Schublade ihres Pults und nahm einen dicken Umschlag sowie einen Stapel Papiere heraus, die sie Verena reichte. »Hier findest du deinen Stundenplan, einen Lageplan des Geländes und eine Broschüre mit Freizeitangeboten. Außerdem ist der Schlüssel für dein Zimmer da drin.«

Verena nahm die Unterlagen entgegen. Der Umschlag fühlte sich schwer in ihrer Hand an, und durch das Papier konnte sie die Umrisse eines Schlüsselbunds ertasten.

»Die Kantine ist täglich von 12 bis 14 Uhr geöffnet«, erklärte Ulli weiter. »Und die kleine Cafeteria hat auch außerhalb der Essenszeiten offen, falls du mal einen Snack oder Kaffee möchtest. Die Schultore werden abends um neun geschlossen. Für Notfälle gibt es einen Nachtdienst. Und denk bitte daran, morgen im Laufe des Tages in meinem Büro vorbeizukommen, um deinen Schülerausweis abzuholen. Es liegt im ersten Stock, gleich neben dem von Direktor Hesse.«

Verena nickte, ein wenig überwältigt von den vielen Informationen.

»So, jetzt brauche ich nur noch ein paar Unterschriften von dir«, sagte Ulli und schob ihr verschiedene Papiere hin: eine Bestätigung über den Erhalt ihres Schlüssels, die Schulordnung und eine Datenschutzerklärung. Mit zitternden Fingern setzte Verena ihre Unterschrift unter jedes Dokument und widerstand dem Drang, sich zu kneifen. Das alles hier war kein Traum. Es geschah wirklich.

»Ach, bevor ich es vergesse«, fügte Ulli hinzu, während sie die Papiere zusammenheftete und in einer Mappe verstaute. »Das Betreten des Waldes ist ausnahmslos verboten.«

Verena sah überrascht auf. »Warum denn?«

»Ach, eine reine Vorsichtsmaßnahme.« Ulli zuckte die Schultern. »Der Wald ist riesig, und im Laufe der Jahre haben sich immer wieder Schüler darin verirrt. Außerdem gibt es da eine Schlucht, die man erst sieht, wenn man direkt davorsteht. Das Risiko ist einfach zu groß.«

Verena nickte. »Verstehe.«

»Gut. Die Führung für unsere Neuzugänge findet heute Nachmittag um 17 Uhr statt. Aber vorher möchtest du bestimmt erst mal den Koffer auf dein Zimmer bringen und dich ein wenig frisch machen, oder?«

Verena nickte erneut.

»Die Mädchenzimmer befinden sich im Nebengebäude gegenüber.« Ulli deutete auf die Eichentür am anderen Ende der Aula. »Wenn du Hilfe brauchst, frag einfach den Portier oder einen der anderen Schüler. Und denk daran, meine Tür steht dir immer offen.«

Die kühle Herbstluft strich über Verenas Wangen, als sie kurz darauf wieder ins Freie traten. Auf dem Treppenabsatz blieb sie stehen und sah sich um, versuchte alles in sich aufzusaugen: den kurz gemähten Rasen, die gekiesten Gehwege, den Springbrunnen in der Mitte des sonnigen Hofes. Die Nebengebäude flankierten das Haupthaus in einem hufeisenförmigen Bogen, und die großen, efeuumrankten Fenster verliehen der Szenerie eine fast unwirkliche Atmosphäre. Sie fühlte sich wie eine Figur aus einem ihrer Lieblingsromane – wie Elizabeth Bennet auf Pemberley oder Harry Potter bei seiner Ankunft in Hogwarts. Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Ihr Traum war tatsächlich wahr geworden.

»Soll ich dir mit dem Gepäck helfen?«, fragte Tante Claire. »Ich könnte noch mit hochkommen und …«

»Nicht nötig«, entgegnete Verena rasch. »Danke, dass du mich begleitet hast, aber ab jetzt schaffe ich es allein. Du hast ja noch die Zugfahrt vor dir, und Herr Prinz wäre bestimmt sauer, wenn du ihn mit dem Abendessen warten lässt.«

»Das stimmt wohl. Dieser verwöhnte Snob!« Tante Claire lachte, doch ihre Stimme klang ein wenig belegt.

Verena lächelte wehmütig, als sie an ihren alten Kater dachte. Sie sah ihn vor sich, wie er auf der Fensterbank lag und durch das Fenster die Vögel beobachtete, die im Garten nach Würmern suchten. Nicht, dass er sich jemals die Mühe gemacht hätte, einem von ihnen nachzustellen. Dazu war er viel zu faul. Ob er sie vermissen würde?

»Also gut … Pass gut auf dich auf, ja? Und lass mich wissen, wenn du etwas brauchst. Wir sehen uns dann in den Weihnachtsferien.«

»Warte!«, rief Verena, als ihre Tante sich schon abgewandt hatte.

Von plötzlicher Sehnsucht überwältigt, machte sie einen Schritt auf sie zu und umarmte sie fest. Tante Claire wirkte kurz überrascht, erwiderte die Umarmung dann aber umso fester.

»Du wirst mir fehlen«, murmelte Verena und atmete ihren vertrauten Duft ein – eine Mischung aus Seife und einem Hauch von Lavendel. »Und danke … für alles!«

»Deine Mutter wäre so stolz auf dich. Und ich bin es auch«, flüsterte Claire mit tränenerstickter Stimme. »Mehr, als du dir vorstellen kannst. Und vergiss nicht, mich jeden Sonntag anzurufen. Versprich es mir!«

»Ich verspreche es.«

Widerstrebend ließ Verena von ihr ab und beobachtete, wie Tante Claire den Kiesweg entlang zum Schultor ging. Ihre Haltung war wie immer leicht gebeugt, und ihr graues Haar wehte im Wind. Erst als sie hinter der nächsten Biegung verschwunden war, gab Verena sich einen Ruck und wandte sich ab. Es war an der Zeit, sich auf die Suche nach ihrem Zimmer zu machen.

Nachdem sie ihren Koffer mühsam über den Schulhof gezogen hatte, blieb sie stehen und suchte in dem Umschlag nach dem Zimmerschlüssel. »24« war darauf eingraviert. Ratlos sah Verena sich um. Vier fast identische Gebäude reihten sich aneinander. Aber in welchem davon war sie untergebracht?

Schließlich entdeckte sie ein Mädchen, das am Rand des Hofes auf einer Parkbank saß und auf ein nagelneues Klapphandy starrte. Sie trug eine beige Lederjacke und hatte blondes Haar, das zu einem schicken Stufenschnitt getrimmt war.

Kurz entschlossen ließ Verena ihren Koffer stehen und ging zu ihr.

»Hi, ich bin Verena«, begann sie verlegen. »Heute ist mein erster Tag hier, und ich suche mein Zimmer – die Nummer 24. Kannst du mir vielleicht sagen, wo das ist?«

Das Mädchen blickte auf und musterte Verena einen Moment lang von Kopf bis Fuß, bevor es sich wieder seinem Handy zuwandte. »Seh ich aus wie die Auskunft? Frag doch den Portier!«

Verena starrte sie fassungslos an, aber das Mädchen sagte nichts mehr und beachtete sie auch nicht weiter. Wütend machte sie auf dem Absatz kehrt und marschierte zur Aula zurück. Herr Schmidt, ein mürrisch dreinblickender Mann mit imposantem Schnauzbart, erklärte ihr, dass ihr Zimmer im am weitesten rechts gelegenen Gebäude lag.

Als Verena zehn Minuten später vor ihrer Zimmertür stand und den Schlüssel ins Schloss steckte, atmete sie erleichtert auf.

Endlich!

Das Zimmer war überraschend groß. Zwei Einzelbetten standen einander gegenüber, frisch bezogen mit hellrosa Bettwäsche. Über dem rechten Bett hing ein riesiges Coldplay-Poster, daneben eine Fotocollage von Jugendlichen, die grinsend Gläser mit einer dunklen Flüssigkeit hochhielten. Die Wand hinter dem anderen Bett war leer.

Außerdem gab es zwei gemütliche Lehnstühle mit einem runden Tisch in der Mitte und einen gut drei Meter langen Schrank, auf dem ein riesiger Louis-Vuitton-Koffer lag. Neben dem großen Fenster, das den Blick auf den grünen Schulhof freigab, befand sich eine weitere Tür, die vermutlich in das angrenzende Badezimmer führte.

Auf der Couch saß ein Mädchen und blätterte in einer Modezeitschrift. Sie war etwas kräftiger gebaut und trug eine weiße Bluse, die sich leicht über der Brust spannte. Ihr dunkles lockiges Haar fiel ihr in sanften Wellen über die Schultern.

Verena räusperte sich. »Hallo.«

»Oh, hi.« Das Mädchen legte die Zeitschrift beiseite und erhob sich. »Du musst die Neue sein. Verena, richtig?«

Sie nickte.

»Freut mich. Ich bin Cornelia.« Sie streckte Verena die Hand hin, und Verena schüttelte sie. »Ulli hat mir schon erzählt, dass ich dieses Jahr eine neue Mitbewohnerin bekomme. Deine Schrankhälfte ist auf der rechten Seite.«

»Alles klar.«

Verena zog ihren Koffer zum Schrank und begann auszupacken. Cornelia setzte sich wieder auf die Couch und beobachtete sie neugierig.

»Du warst also vorher auf einer öffentlichen Schule?«

»Ja.« Verena schluckte. War das etwa so offensichtlich? »Auf der Karl-Friedrich.«

Cornelia runzelte die Stirn, überlegte kurz und schüttelte dann den Kopf. »Die kenne ich nicht. Wie war es dort so?«

Verena schloss die Schranktür und wandte sich zu ihr um. Cornelia hatte die Haare hinter die Ohren geklemmt, und in ihren Ohrläppchen blitzten winzige Perlenohrringe.

»Es war eigentlich ganz okay. Die Schule war nur ein paar Gehminuten von unserem Haus entfernt, das war praktisch. Natürlich war es dort nicht so nobel, und die Sportanlagen waren ein Witz, aber die Lehrer haben sich Mühe gegeben.«

»Muss schön gewesen sein, jeden Morgen im eigenen Zimmer aufzuwachen«, sagte Cornelia mit einem wehmütigen Seufzer. »Ich bin schon hier im Internat, seit ich zehn bin. Meine Eltern sind Kardiologen und ständig auf irgendwelchen Kongressen. Deshalb haben sie mich gleich nach der Volksschule hierher geschickt.«

»Vermisst du sie?«, fragte Verena vorsichtig.

»Am Anfang schon, aber jetzt nicht mehr.« Cornelia zuckte die Schultern. »Ich weiß, dass sie mich lieben, auch wenn sie selten Zeit für mich haben. Ihre Arbeit ist wichtig – sie retten Leben. Wie könnte ich ihnen das vorwerfen?« Sie lächelte. »Außerdem ist das hier jetzt mein Zuhause. Meine Freunde sind meine Familie – meine Wahlfamilie. Verstehst du?«

Verena nickte, obwohl sie es nicht wirklich tat. Sie hatte nie viele Freunde gehabt. Jedenfalls keine richtigen. In ihrer alten Schule war sie immer eine Außenseiterin gewesen. Vielleicht lag es daran, dass sie ihre Freizeit lieber mit Büchern und Filmen als mit Menschen verbrachte. Oder weil sie die Klassenbeste gewesen war. Aber das machte ihr nichts aus. Sie hatte Tante Claire. Und natürlich Herrn Prinz. Mehr brauchte sie nicht.

»Und wie kommt es, dass du jetzt auf die Santa Clara gewechselt hast?«, fragte Cornelia und riss Verena aus ihren Gedanken. »Zwei Jahre vor dem Abschluss?«

»Ach, das war im Grunde ein glücklicher Zufall. Ich habe letztes Jahr einen Schreibwettbewerb gewonnen. Den Young Writers Award, falls du den kennst.« Sie hielt inne. Gott, sie klang wie eine Angeberin. »Jedenfalls hat mir meine Deutschlehrerin vorgeschlagen, mich für ein Stipendium hier zu bewerben. Sie meinte, die Santa Clara wäre ideal, da ich später mal im Ausland Literatur studieren möchte. Ich hätte nie gedacht, dass sie mich wirklich nehmen – aber hier bin ich.«

Cornelia nickte anerkennend. »Ein Freund von mir hat auch an dem Wettbewerb teilgenommen. Wenn du da gewonnen hast, musst du wirklich talentiert sein.«

»Na ja«, sagte Verena verlegen und wandte sich wieder ihrem Koffer zu. »Ich hoffe nur, dass ich mit euch mithalten kann. Ich musste eine Menge Ergänzungsprüfungen machen, vor allem in Französisch. Das war eine echte Herausforderung.«

»Ach, mach dir keine Sorgen. Das packst du schon.« Cornelias Blick fiel auf den Bilderrahmen, den Verena gerade auf den Nachttisch gestellt hatte. »Ist das deine Mutter?«

»Was? Oh, nein.« Verena lachte. »Meine Eltern sind schon lange tot. Jetzt gibt es nur noch mich und meine Tante Claire.«

»Das tut mir leid.«

Verena zuckte mit den Schultern. »Muss es nicht. Sie starben bei einem Lawinenunglück, als ich noch klein war. Ich kann mich kaum an sie erinnern.«

Cornelia sah sie mitfühlend an. Plötzlich verspürte Verena eine seltsame Verbundenheit mit ihr – als ob ihre Familiengeschichten sie irgendwie näherbrächten: Sie, das reiche Mädchen, dessen Eltern nie Zeit hatten, und Verena, die gar keine Eltern mehr hatte.

Dann fuhr Cornelia mit ihren Fragen fort: Ob Verena einen Freund habe (nein), wer ihr Lieblingsschauspieler sei (Heath Ledger) und welche Musik sie gerne höre (Mainstream-Pop und ein bisschen Hip-Hop). Cornelias Fragen prasselten so schnell auf sie ein, dass Verena sich wie in einem Verhör fühlte.

»Und, habe ich bestanden?«, fragte sie schließlich mit einem schiefen Lächeln, als Cornelia eine Pause machte, um Luft zu holen.

Cornelia grinste. »Vorerst. Nur noch eine letzte Frage.« Sie lehnte sich vor, und Verena hielt unwillkürlich den Atem an, gespannt, was nun kommen würde. »Jennifer oder Angelina?«

Verena brauchte einen Moment, um zu begreifen, was Cornelia meinte. Dann fiel ihr Blick auf das Cover der Zeitschrift, in der Cornelia zuvor gelesen hatte. Sie grinste breit. »Ganz klar Jennifer. Was für eine Frage!«

Cornelia klatschte in die Hände. »Richtige Antwort!« Sie stand auf, griff nach ihrem Rucksack und zwinkerte Verena zu. »Komm, zieh dich um. Wir gehen vor deiner Führung noch schnell in die Cafeteria. Der Latte Macchiato dort ist gar nicht so übel.«

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